Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben! Jesus Christus

Die sterbende Erde

The Dying Earth

USA, 1950
Übersetzt von Lore Strassel
198 Seiten, eine Karte
Edition Andreas Irle, 1995
ISBN  3-9804569-0-0
€ 50,--
Leider nicht mehr lieferbar.

 

Schon von Geburt an war Guyal von Sfere anders als seine Mitmenschen, und seine Entwicklung machte bereits in jungen Jahren seinem Erzeuger große Sorgen. Rein äußerlich war er völlig normal, aber in seinem Gehirn gab es eine Leere, die gefüllt werden wollte.
Es war, als hätte seine Geburt unter einem Zauber gestanden, der das Kind mit einem unstillbaren Wissensdurst belastet hatte, so daß jedes, auch das unbedeutenste Ereignis für ihn zum Wunder wurde, über das er mehr zu erfahren trachtete. Beispielsweise stellte er bereits, als er kaum vier Jahre alt war, folgende Fragen:
»Warum haben Quadrate mehr Seiten als Dreiecke?«
»Wie werden wir sehen, wenn die Sonne erlischt?«
»Wachsen auch unter dem Meer Blumen?«
»Prasseln und zischen die Sterne, wenn es des Nachts regnet?«
Sein Vater antwortete ungeduldig:
»So bestimmt es das Pragmatika. Quadrate und Dreiecke müssen der Regel gehorchen.«
»Wir werden gezwungen sein, uns durch die Dunkelheit zu tasten.«
»Ich konnte mich dessen nie vergewissern. Nur der Kurator weiß es.«
»Aber durchaus nicht, denn die Sterne sind hoch über dem Regen, ja höher selbst als die höchsten Wolken, und sie schwimmen in verfeinerter Luft, in der es nie zum Regnen kommen kann.«
Als Guyal zum Jüngling heranwuchs, zog die Leere in seinem Geist sich nicht zusammen, wie man gehofft hatte. Im Gegenteil, sie schien in einem noch stärkeren Verlangen zu pulsieren. Und so fragte er:
»Weshalb sterben Menschen, wenn sie getötet werden?«
»Was wird aus der Schönheit, wenn sie verschwindet?«
»Wie lange leben die Menschen schon auf der Erde?«
»Was ist jenseits des Himmels?«
Worauf sein Vater mühsam die Bitterkeit unterdrückte und folgendermaßen antwortete:
»Der Tod ist das Erbe des Daseins. Die Lebenskraft eines Menschen ist wie Luft in einer Blase. Stichst du eine Nadel hinein, so flieht das Leben wie die Farbe eines erlöschenden Traums.«
»Schönheit ist ein Glanz, den die Liebe verleiht, um das Auge zu täuschen. Deshalb kann man sagen, daß das Auge nur dann keine Schönheit sieht, wenn das Herz ohne Liebe ist.«
»Manche nehmen an, der Mensch sei aus der Erde erstanden wie Made in einer Leiche. Andere sind der Ansicht, die ersten Menschen ersehnten sich ein Zuhause und erschufen deshalb die Erde durch einen Zauber. Wie es wirklich war, kann nur der Kurator mit Sicherheit beantworten.«
»Eine endlose Öde.«
Und Guyal grübelte und postulierte, stellte Thesen auf und äußerte seine Meinung, bis er schließlich zum Gegenstand heimlichen Gespötts wurde. Das Gerücht ging um, daß ein Gleft auf Guyals Mutter aufmerksam geworden war, als sie in den Wehen lag, und er zu dieser Zeit einen Teil von Guyals Gehirn stahl. Dieses Manko versuchte der Junge nun mit aller Gewalt zu beheben.
Als Guyal bemerkte, daß man keinen Wert auf seine Gesellschaft legte, sonderte er sich ab und streifte allein über die grünen Hügel Sferes. Doch nie ruhte sein Verstand, er wollte Näheres über alles wissen, was er sah, und konnte gar nicht genug erfahren, bis sein Vater eines Tages verdrossen erklärte, er wolle keine weiteren Fragen hören. Alles Wissen sei einmal bekannt gewesen, das unwichtige und bedeutungslose habe man vergessen und der Rest genüge völlig für einen gesunden, normalen Menschen.
Zu dieser Zeit reifte Guyal zum Mann heran. Er war ein schlanker, gutaussehender Bursche mit großen klaren Augen, einem Hang zu eleganter Kleidung und einem heimlichen Kummer, der sich in seinen leicht herabgezogenen Mundwinkeln bemerkbar machte.
Als sein Vater diese grimmige Erklärung abgab, sagte Guyal: »Nur noch eine Frage, dann werde ich keine mehr stellen.«
»Also gut«, brummte sein Vater. »Eine Frage sei dir noch gewährt.«
»Du hast so oft den Kurator erwähnt. Wer ist er? Und wie kann ich ihn finden, um meinen Wissensdurst endlich zu befriedigen?«
Einen Augenblick lang musterte der Vater den Sohn, den er nun für hoffnungslos verrückt hielt. Dann erwiderte er mit ruhiger Stimme. »Der Kurator bewacht das Museum der Menschheit, das sich uralter Legende nach im Land der Fallenden Wand jenseits der Berge von Fer Aquila und nördlich von Ascolais befinden soll. Es ist nicht bekannt, ob das Museum der Menschheit noch existiert und der Kurator noch am Leben ist. Doch dünkt mir, wenn der Kurator wahrhaftig alles weiß, wie die Legende behauptet, dann müßte er wohl auch den Tod zu trotzen verstehen.«
»Ich möchte den Kurator und das Museum der Menschheit aufsuchen«, erklärte Guyal, »damit auch ich alles erfahre, was es zu wissen gibt.«
Seufzend, doch voll Geduld versprach ihm sein Vater: »Ich werde dir meinen edlen Schimmel überlassen, dir mein dehnbares Ei als Unterschlupf vor jeglicher Gefahr mitgeben und dazu meinen leuchtenden Dolch, um dir Licht im Dunkeln zu spenden. Außerdem segne ich deinen Weg, damit die Gefahr sich dir fernhält, solange du nicht von ihm abweichst..«
Guyal unterdrückte die hundert neuen Fragen, die sich ihm über die Zunge drängen wollten, einschließlich jener, wo sein Vater diese Manifestationen der Zauberei herbeizurufen gelernt hatte, und nahm dankbar die Geschenke an: das Pferd, die magische Unterkunft, den Dolch mit dem leuchtenden Schaft und den Segen, der ihn von allen Unannehmlichkeiten bewahren sollte, die einem Reisenden auf den fast unbekannten Wegen Ascolais´ drohen mochten.
Er streifte seinem Schimmel eine prachtvolle Decke über, steckte den Dolch in die Scheide, warf einen letzten Blick auf das alte Haus in Sfere und machte sich auf den Weg nach Norden, und die Leere in seinem Gehirn pochte und drängte nach Wissen, das seine Qualen lindern würde.