Cugel's Saga
USA, 1983
Übersetzt von Lore Strassel
366 Seiten
Edition Andreas Irle, 1999
ISBN 3-9804569-6-X
€ 50,--
Leider nicht mehr lieferbar
Bunderwal legte seine Pfeife zur Seite. »Nun, Cugel, was haltet Ihr von Saskervoy?«
»Es scheint mir ein angenehmes Städtchen zu sein, wo ein fleißiger Mann es zu etwas bringen kann.«
»Ihr seht es richtig und genau darüber wollte ich mich mit Euch unterhalten. Doch trinken wir zunächst auf Euren weiterhin wachsenden Wohlstand.«
»Ich werde auf den Wohlstand als solches trinken«, antwortete Cugel vorsichtig. »Ich selbst habe mit ihm wenig Erfahrung.«
»Was? Mit Eurem Geschick beim Skax? Ich habe mir fast die Augen verrenkt beim Versuch, Euren schwungvollen Bewegungen zu folgen.«
»Eine törichte Angewohnheit«, gestand Cugel. »Ich muss lernen mit etwas weniger Getue zu spielen.«
»Oh, das ist mir eigentlich egal«, sagte Bunderwal. »Mir ist die Anstellung, die Soldinck zu bieten hat, weit wichtiger. Da ist es bedauerlicherweise schon zu einigen unliebsamen Änderungen gekommen.«
»Stimmt«, brummte Cugel. »Gestattet mir einen Vorschlag.«
»Ich habe für neue Anregungen immer ein offenes Ohr.«
»Dem Ladungsaufseher unterstehen sicherlich andere Posten auf der Galante. Wenn Ihr ...«
Bunderwal hob eine Hand. »Kein langes Hin und Her. Ich halte Euch für einen Mann schneller Entschlüsse. Klären wir die Sache doch ein für allemal. Lassen wir Mandingo entscheiden, wer sich für die Stellung bewirbt und wer davon Abstand nimmt.«
Cugel holte seine Karten hervor. »Wollt Ihr Skax oder Rampolio spielen?«
»Weder noch«, wehrte Bunderwal ab. »Wir müssen uns auf etwas einigen, dessen Ausgang nicht von vornherein feststeht ... Seht Ihr das Glas dort, in dem Krasnark, der Wirt, seine Sphigalen hält?« Bunderwal deutete auf einen Behälter mit einer Glaswand, in dem verschiedene Krebstiere herumkrochen, die gekocht eine besondere Köstlichkeit waren. Die übliche Sphigale war acht Zoll lang und hatte sowohl ein Paar kräftige Scheren als auch einen sehr beweglichen Stachelschwanz.
»Diese Tiere sind von unterschiedlicher Gemütsart«, erklärte Bunderwal. »Einige sind schnell, andere langsam. Sucht Euch eines aus, genau wie ich es tun werde. Dann setzen wir unsere Renntiere auf den Boden. Das erste, das die gegenüberliegende Wand erreicht, gewinnt.«
Cugel musterte die Sphigalen. »Es sind feurige Tiere, zweifellos.« Eine der Sphigalen – sie war rot-gelb-blau gestreift, das Blau war hässlich, wie von verwaschener Kreide – fiel ihm besonders auf. »Gut, ich habe meinen Renner ausgewählt.«
»Holt ihn mit der Greifzange heraus, aber seid vorsichtig! Sie schnappen mit den Scheren zu und stechen, wann es ihnen Spaß macht.«
Verstohlen, um keine Aufmerksamkeit zu erregen, hob Cugel seine Sphigale mit der Zange heraus und setzte sie auf die Startlinie. Bunderwal tat es ihm gleich.
Bunderwal sprach zu seinem Renner: »Liebe Sphigale, lauf so schnell du kannst, meine Zukunft hängt von deiner Fähigkeit ab! Achtung – fertig – los!«
Beide Männer hoben die Zangen und entfernten sich unauffällig von dem Behälter. Die Sphigalen rannten los. Bunder-wals entdeckte die offene Tür und floh in die Nacht. Cugels suchte Zuflucht in einem von Wagmunds Stiefeln, die der Mann ausgezogen hatte, um sich die Füße am Kamin zu wärmen.
»Ich erkläre beide Teilnehmer an diesem Rennen für disqualifiziert«, sagte Bunderwal. »Wir müssen unser Los auf andere Weise entscheiden.«
Cugel und Bunderwal kehrten zu ihrem Tisch zurück. Es dauerte nicht lange und Bunderwal fiel etwas Neues ein. »Die Speisen- und Getränkeausgabe befindet sich hinter dieser Wand, und zwar ein halbes Stockwerk tiefer. Um Zusammenstöße zu vermeiden, steigen die Schankburschen die rechte Treppe hinunter und die linke mit den vollen Tabletts herauf. Jede wird außerhalb der Öffnungs- beziehungsweise Arbeitszeit durch ein Fallgatter verschlossen. Wie Ihr seht, werden diese Gatter durch eine Kette offengehalten. Diese Kette gleich hier bedient das Gatter der linken Treppe, auf der die Schankburschen mit Bier und anderem hochkommen. Jeder Schankbursche trägt eine hohe Mütze, die das Haar völlig bedeckt, um zu verhindern, dass es mit den Speisen und Getränken in Berührung kommt. Ich schlage Folgendes vor: Wir beide lassen abwechselnd das Fallgatter um ein oder zwei Kettenglieder tiefer, bis es schließlich einem der Burschen die Mütze abstreift. Wenn dies geschieht, hat der von uns verloren, der die Kette zuletzt tiefer gelassen hat. Das bedeutet, dass er jeglichen Anspruch auf die Stellung als Ladungsaufseher aufgeben muss.«
Cugel betrachtete die Kette und das Gatter, das sich damit heben und senken ließ, und auch die Schankburschen.
»Die Burschen sind verschieden groß«, bemerkte Bunderwal, »mit etwa drei Zoll Unterschied zwischen dem kleinsten und dem größten. Allerdings glaube ich, dass der größte etwas vornübergeneigt geht. Das erfordert eine ausgeklügelte Strategie.«
»Zuvor müssen wir jedoch festlegen«, forderte Cugel, »dass keiner von uns den Burschen winken, rufen oder sie auf andere Weise ablenken darf, damit der Ausgang des Spieles nicht beeinflusst wird.«
»Einverstanden«, erklärte Bunderwal sich bereit. »Wir müssen auf wahrhaft ritterliche Weise vorgehen. Um mögliche absichtliche Verzögerungen zu vermeiden, wollen wir außerdem gleich bestimmen, dass der erste Zug stattzufinden hat, ehe der zweite Bursche erscheint. Wenn Ihr beispielsweise das Gatter gesenkt habt und ich annehme, dass als nächstes der größte Bursche hochkommt, kann ich, brauche aber nicht zu warten, bis einer oben ist, doch dann, ehe der zweite erscheint, muss ich die Kette verlängern.«
»Eine gute Regel, mit der ich einverstanden bin. Wollt Ihr den Anfang machen?«
Bunderwal überließ dieses Vorrecht Cugel. »Gewissermaßen seid Ihr unser Gast hier in Saskervoy, deshalb sei Euch die Ehre vergönnt zu beginnen.«
»Vielen Dank.« Cugel zog die Kette aus ihrer Halterung und senkte das Gatter um zwei Glieder. »Nun seid Ihr an der Reihe, Bunderwal. Wenn Ihr es vorzieht, dürft Ihr warten, bis ein Bursche hochgekommen ist. Ich werde den Vorgang beschleunigen, indem ich uns frisches Bier bestelle.«
»Gut. Nun muss ich größte Sorgfalt walten lassen. Ich sehe schon, für dieses Spiel braucht man ein feines Zeitgefühl. Ich lasse nun die Kette um zwei Glieder hinab.«
Cugel wartete, bis der größte Bursche, ein Tablett mit vier Bierkrügen in der Hand, hochkam. Nach Cugels Schätzung war zwischen seiner Mütze und dem Gatter ein Abstand von dreizehn Kettengliedern. Cugel ließ die Kette um vier Glieder herunter.
»Aha!« rief Bunderwal. »Ihr seid kühn! Ich werde Euch beweisen, dass ich nicht weniger wagemutig bin! Weitere vier Glieder!«
Cugel kniff die Augen abschätzend zusammen. Bei einem Senken um sechs Glieder müsste das Gatter dem größten Burschen die Mütze genau abstreifen. Wenn die Burschen die gleiche Reihenfolge einhielten, dürfte der größte als dritter wieder erscheinen. Cugel wartete, bis der nächste, ein Junge mittlerer Größe, vorbei war, dann senkte er die Kette um ganze fünf Glieder.
Bunderwal sog laut den Atem ein, dann jubelte er auf. »Sehr schlau gefolgert, Cugel! Doch nun lasse ich das Gatter um zwei weitere Glieder hinunter. Dadurch verfehle ich den kleinsten Burschen, der gerade die Treppe hochsteigt.«
Der Kleine kam unter dem Gatter hindurch. Es fehlten noch etwa zwei Glieder bis zu seiner Mütze. Cugel musste nun seinen Zug machen oder aufgeben. Düster senkte er das Gatter um ein Glied. Schon kam der größte Bursche die Stufen hoch. Doch das Glück war Cugel hold. Der Bursche duckte den Kopf, um sich die Nase am Ärmel abzuwischen, so gelangte er unter dem Gatter hindurch, ohne dass dies die Mütze auch nur berührte. Jetzt war Cugel es, der triumphierte. »Ihr seid dran, Bunderwal. Tut etwas, wenn Ihr Euch nicht gleich so geschlagen geben wollt.«
Verzweifelt ließ Bunderwal ein Glied hinunter. »Nun kann ich nur noch um ein Wunder beten.«
Da stieg Krasnark, der Wirt, die Treppe hoch. Er war ein Mann mit grobgeschnittenem Gesicht, größer als der größte Schankbursche und hatte muskulöse Arme und buschige schwarze Brauen. Er trug ein Tablett mit einer Schüssel Suppe, zwei Brathähnchen und einem großen gestürzten Wackel-pudding. Heftig schloss sein Kopf Bekanntschaft mit dem Gatter. Er stürzte rückwärts die Stufen hinunter und verschwand außer Sicht. Klirren und Krachen von zerbrechendem Geschirr und ein gewaltiger Aufschrei drangen von unten herauf.
Hastig zogen Bunderwal und Cugel das Gatter in seine ursprüngliche Stellung zurück und setzten sich auf entferntere Stühle. »Nun dürfte ich wohl als Sieger erklärt werden«, sagte Cugel, »da Ihr der Letzte wart, der die Kette berührt hat.«
»Keineswegs!« widersprach Bunderwal. »Bei der Wette ging es darum einem von drei Schankburschen die Mütze vom Kopf zu streifen. Dazu kam es jedoch nicht, da Krasnark sich dazwischendrängen musste und so das Spiel unterbrach.«
»Da ist er!« Cugel deutete mit einem Kopfnicken. »Er mustert das Fallgatter sichtlich verwirrt.«
»Es dürfte nicht ratsam sein das Spiel fortzusetzen«, meinte Bunderwal. »Soweit es mich betrifft, ist es zu Ende.«
»Nur der Sieger muss noch bestätigt werden«, beharrte Cugel. »Und der bin ich – aus so gut wie jeder Sicht.«
Davon war Bunderwal nicht zu überzeugen. »Krasnark trug keine Mütze und so kam es zu keiner Entscheidung! Gestattet, dass ich noch etwas anderes vorschlage, bei dem das Glück eine ausschlaggebende Rolle spielt.«
»Ah, hier ist endlich unser Bier. Du hast aber lange damit gebraucht, Bursche!«
»Tut mir leid, Herr. Krasnark stürzte die Treppe hinunter und schlug gewaltigen Krach.«
»Nun gut, dann sei dir verziehen. Bunderwal, erklärt Euer neues Spiel.«
»Es ist so einfach, dass es mich fast verlegen macht. Die Tür dort führt zum Pissoir. Seht Euch in der Gaststube um und sucht einen Mann aus. Ich werde es auch tun. Wessen Erwählter als letzter seiner Notdurft nachgeht, gewinnt.«
»Nicht schlecht«, lobte Cugel. »Habt Ihr Eure Wahl schon getroffen?«
»Ja. Und Ihr?«
»Ich wählte meinen sofort. Ich halte ihn für unschlagbar in einem Wettbewerb dieser Art. Es ist der schon etwas ältliche Herr mit der spitzen Nase und dem verkniffenen Mund, unmittelbar links von mir. Er ist nicht groß, aber die Sparsamkeit, die er bei seinen Schlucken walten lässt, verleiht mir Zuversicht.«
»Hm, keine schlechte Wahl«, gab Bunderwal zu. »Zufällig fiel meine Wahl auf seinen Begleiter, den Herrn im grauen Umhang, der missmutig an seinem Bier nippt.«
Cugel winkte einen Schankburschen herbei und fragte hinter vorgehaltener Hand, so dass Bunderwal es nicht hören konnte: »Weshalb lassen die beiden Herren links von mir sich soviel Zeit beim Trinken?«
Der Bursche zuckte die Schultern. »Wenn Ihr die Wahrheit wissen wollt: Sie trennen sich nicht gern von ihrem Geld, obgleich beide mehr als wohlhabend sind. So sitzen sie den ganzen Abend bei einem einzigen Krug unseres billigsten Gebräus.«
»In diesem Fall«, meinte Cugel, »bring dem Herrn im grauen Umhang einen großen Krug eures besten Bieres auf meine Rechnung, doch sag nicht, dass ich es bestellte.«
»Wie Ihr wünscht, Herr.«
Auf einen Wink Bunderwals wandte der Schankbursche sich ihm zu und auch Bunderwal murmelte ihm etwas zu. Der Bursche verbeugte sich knapp und rannte die Treppe hin-unter. Bald darauf kehrte er mit zwei Riesenkrügen zurück, die er den beiden Erwählten vorsetzte. Nachdem der Bursche ihnen eine längere Erklärung abgegeben hatte, nahmen sie das spendierte Bier an, waren jedoch offensichtlich überrascht.
Cugel gefiel die Gier gar nicht, mit der sein Mann nun trank. »Ich fürchte, ich traf eine schlechte Wahl«, klagte er. »Der Kerl säuft, als käme er gerade nach mehreren Tagen aus der Wüste zurück!«
Auch Bunderwal war mit seinem Mann unzufrieden. »Er steckt mit seiner Nase bereits tief im Krug. Ich muss schon sagen, Cugel, Euer Trick war gemein. Es blieb mir nichts übrig, als tief in den Beutel zu greifen, um es Euch nachzutun.«
Cugel dachte, er könnte seinen Mann vielleicht durch ein Gespräch vom Bier ablenken. So beugte er sich vor und sagte: »Seid Ihr in Saskervoy zu Hause, mein Herr?«
»Das bin ich«, bestätigte der Spitznasige, »und wir aus Sas-kervoy sind dafür bekannt, dass wir Fremden in seltsamer Gewandung Misstrauen entgegenbringen.«
»Ihr seid auch für eure Mäßigkeit bekannt«, sagte Cugel, um das Gespräch nicht abbrechen zu lassen.
»Welch Unsinn!« rief der feine Herr. »Seht Euch doch nur die Gäste hier an: Alle trinken einen Krug nach dem andern. Entschuldigt mich, ich muss es ihnen gleichtun.«
»Lasst Euch warnen, das hiesige Bier ist nicht unschädlich. Mit jedem Schluck setzt Ihr Euch der Gefahr einer Erkrankung aus.«
»Unsinn! Bier reinigt das Blut! Hört Ihr zu trinken auf, wenn Ihr Angst habt, aber lasst mich in Ruhe!« Erneut hob der Spitznasige den Krug an die Lippen und nahm einen tiefen Schluck.
Verärgert über Cugels Versuch, wollte nun Bunderwal seinen Mann ablenken, indem er ihm auf die Zehen trat. Die Streitigkeiten, zu denen es dadurch gekommen wäre, hätten bestimmt eine ordentliche Weile beansprucht. Aber Cugel war geistesgegenwärtig und zog Bunderwal auf seinen Stuhl zurück. »Spielt das Spiel nach sportlichen Regeln oder ich ziehe mich von diesem Wettbewerb zurück!«
»Eure Taktik war auch nicht gerade den Regeln entsprechend«, empörte sich Bunderwal.
»Nun denn«, sagte Cugel, »so wollen wir nicht mehr in den Lauf der Dinge eingreifen.«
»Einverstanden, aber das wäre ohnehin nicht mehr nötig, da Euer Mann schon Zeichen der Unruhe verrät. Er wird sich wohl gleich erheben, in welchem Fall ich gewinne!«
»Nicht doch! Wessen Mann als erster durch die Tür geht, hat verloren! Seht doch, Eurer steht bereits auf. Sie gehen beide gleichzeitig.«
»Dann zählt jener, der die Gaststube als erster verlässt, denn zweifellos wird er auch der erste sein, der sich erleichtert.«
»Nein, nicht so. Wessen Mann tatsächlich als erster seine Notdurft verrichtet, ist der Verlierer.«
»So kommt. Von hier aus lässt sich das nicht feststellen.«
Cugel und Bunderwal beeilten sich ihren Erwählten zu folgen. Sie kamen auf den Hinterhof und zu einem beleuchteten Anbau, wo ein an der Wand befestigter Trog für die Bedürfnisse der männlichen Gäste zur Verfügung stand.
Die beiden Erwählten schienen in keiner großen Eile zu sein. Sie blieben stehen, schauten zum Sternenhimmel hoch und bemerkten zueinander, welch milde Nacht es doch war. Dann traten sie fast gleichzeitig zu dem Trog. Cugel und Bunderwal folgten zu beiden Seiten, um sich zu vergewissern.
Die zwei Herren machten sich daran, sich zu erleichtern. Cugels Mann blickte seitwärts. Ihm fiel Cugels Interesse auf und er rief sofort verärgert: »Eure Neugier ist unverzeihlich! Wirt! Herbei! Ruft die Nachtwache!«
Cugel versuchte zu erklären. »Mein Herr, Ihr verkennt die Situation! Bunderwal wird es Euch erklären. Bunderwal?«
Aber Bunderwal hatte sich eilig in die Gaststube zurückgezogen. Krasnark, der Wirt, nun mit einem Verband um die Stirn, kam herbeigelaufen. »Meine Herren, bitte beruhigt euch! Meister Chernitz, habt die Güte Euch zu fassen. Was habt Ihr für Schwierigkeiten?«
»Keine Schwierigkeiten!« entrüstete sich Chernitz. »Eine Unverschämtheit. Ich kam hierher, um mich zu erleichtern, woraufhin diese Person sich neben mich stellte und sich gar unverfroren benahm. Natürlich rief ich sofort nach Euch!«
Sein Freund, Bunderwals Erwählter, sprach verkniffen. »Ich kann die Anschuldigung bekräftigen! Diesem Burschen sollte das Haus verboten, ja, er sollte aus der Stadt gejagt werden!«
Krasnark wandte sich an Cugel: »Das sind ernste Anschuldigungen! Was habt Ihr zu Eurer Verteidigung zu sagen?«
»Meister Chernitz ist einem Irrtum unterlegen! Auch ich kam lediglich aus demselben Grund hierher wie er. Als ich die Wand entlangschaute, bemerkte ich meinen Freund Bunder-wal und winkte ihm zu, woraufhin Meister Chernitz aufschrie und verleumderische Verdächtigungen ausstieß! Es wäre wirklich angebracht, Ihr würdet diese beiden alten Baumwiesel hinauswerfen!«
»Was?« schrie Chernitz heftig. »Ich bin ein einflussreicher Mann!«
Krasnark schwang beide Arme hoch. »Meine Herren, bitte! Lasst Vernunft walten! Die Sache ist doch wahrhaftig nicht der Rede wert! Gewiss, Cugel hätte seinem Freund nicht ausgerechnet über den Trog hinweg zuwinken sollen. Und Meister Chernitz wiederum sollte in seinen Mutmaßungen weniger argwöhnisch sein. Ich schlage vor, Meister Chernitz nimmt das Schimpfwort ›Sittenstrolch‹ zurück und Cugel seine ›Baumwiesel‹. Dann lassen wir die Angelegenheit auf sich beruhen.«
»Solche Schmach bin ich nicht gewöhnt«, erklärte Cugel. »Ehe Meister Chernitz sich nicht entschuldigt, nehme ich die ›Baumwiesel‹ nicht zurück!« Ohne ein weiteres Wort kehrte er in die Gaststube zurück und setzte sich wieder an seinen alten Platz zu Bunderwal. »Ihr habt das Pissoir ziemlich plötzlich verlassen«, rügte Cugel. »Ich blieb, um den Ausgang unserer Wette abzuwarten. Euer Mann verlor um einige Sekunden.«
»Aber nur, weil Ihr den Euren abgelenkt habt. Der Wettbewerb ist deshalb ungültig!«
Meister Chernitz und sein Freund kehrten ebenfalls zurück. Nach einem flüchtigen, eisigen Blick auf Cugel steckten sie die Köpfe zusammen und sprachen leisen Tones.
Auf Cugels Wink brachte ein Schankbursche frische Krüge mit Tatterblassbier und die beiden Rivalen stärkten sich. Nach einer kurzen Weile sagte Bunderwal: »Obwohl wir uns redlich bemühten, ist unser kleines Problem immer noch nicht gelöst.«
»Und warum?« entgegnete Cugel. »Weil Spielchen dieser Art völlig vom Zufall abhängig sind. Und deswegen sind sie meinem Wesen zuwider. Ich gehöre nicht zu jenen, die geduldig den Hintern hochrecken und darauf warten, dass das Schicksal ihn tritt oder streichelt. Ich bin Cugel! Furchtlos und nicht unterzukriegen; ich stelle mich unerschrocken allen Widerwärtigkeiten! Kraft meines Willens ...«
Bunderwal winkte ungeduldig ab. »Schweigt, Cugel, Eure Prahlereien reichen mir! Ihr habt zuviel Bier in Euch hineingegossen und ich denke, Ihr seid betrunken!«
Cugel starrte Bunderwal ungläubig an. »Betrunken? Von drei Schlucken dieses blassen Tatterblass? Ich habe schon Regenwasser getrunken, das stärker war. Bursche! Mehr Bier! Was ist mit Euch, Bunderwal?«
»Ich schließe mich Euch gern an. Doch nun, da Ihr eine weitere Entscheidung der Glücksgöttin ablehnt, seid Ihr gewiss bereit Euch geschlagen zu geben?«
»Wie kommt Ihr darauf? Lasst uns Bier trinken, Krug um Krug, während wir die Doppelkoppel tanzen. Der erste, der auf die Nase fällt, hat verloren.«
Bunderwal schüttelte den Kopf. »Wir haben beide ein überdurchschnittliches Beharrungsvermögen und sind aus dem Stoff, aus dem Legenden gemacht werden. So könnte es leicht sein, dass wir die ganze Nacht hindurch tanzen, bis wir gleichermaßen erschöpft sind und der einzige, der Gewinn davon hätte, wäre Krasnark.«
»Nun denn, habt Ihr einen besseren Vorschlag?«
»Allerdings! Wenn Ihr nach links blicktet, würdet Ihr sehen, dass sowohl Chernitz als auch sein Freund eingenickt sind. Seht, wie Ihre Bärte zucken! Hier ist die Gelegenheit! Schneidet dem einen oder anderem den Bart ab und ich erkenne Euch als Sieger an!«
Cugel blickte bestürzt zu den Schlummernden. »Sie schlafen keineswegs fest. Ich bin bereit das Schicksal herauszufordern, das wohl, doch keineswegs, mich von einer Klippe zu stürzen!«
»Nun gut«, brummte Bunderwal. »Dann nehme ich die Schere. Wenn ich einen Bart abgeschnitten habe, müsst Ihr mich als Sieger bestätigen!«
Der Schankbursche brachte frisches Bier. Cugel nahm nachdenklich einen tiefen Schluck. Mit leiser Stimme sagte er: »Die Sache ist nicht so leicht, wie sie aussieht. Angenommen, ich entschiede mich für Chernitz. Er brauchte bloß ein Auge zu öffnen und zu fragen: ›Cugel, weshalb schneidet Ihr mir den Bart ab?‹ Ich würde daraufhin die Strafe erleiden, die das Gericht von Saskervoy für ein solches Vergehen bestimmt.«
»Dasselbe gilt für mich«, erinnerte ihn Bunderwal. »Aber ich bin mit meinen Überlegungen einen Schritt weitergegangen. Hört selbst: Könnte Chernitz oder der andere Euer Gesicht oder mein Gesicht sehen, wenn kein Licht brennt?«
»Wenn kein Licht brennt, wäre die Sache schon vorstellbarer.« Cugel nickte. »Drei Schritte bis zu ihrem Tisch, den Bart fassen, ein Schnitt mit der Schere, drei Schritte zurück und es ist vollbracht. Und dort sehe ich den Lichthahn.«
»Genau mein Gedankengang«, versicherte ihm Bunderwal. »Nun denn, wer versucht es, Ihr oder ich? Ich überlasse die Entscheidung Euch.«
Cugel nahm einen weiteren tiefen Schluck, um besser überlegen zu können. »Lasst mich die Schere fühlen ... Hm, sie ist gut geschliffen. Ich würde sagen, etwas wie dies muss getan werden, solange man noch in der richtigen Stimmung dazu ist.«
»Dann werde ich also den Lichthahn drehen«, erklärte Bunderwal. »Sobald das Licht ausgeht, springt Ihr los und tut Euer Werk.«
»Wartet«, hielt Cugel ihn zurück. »Zuerst muss ich einen Bart auswählen. Der von Chernitz ist sehr verlockend, aber der des anderen steht besser ab. Ah ... Also gut, ich bin bereit.«
Bunderwal stand auf und schlenderte zum Hahn. Er blickte zu Cugel zurück und nickte.
Cugel machte sich bereit.
Die Lichter erloschen. Vom Glimmern des Feuers abgesehen, war es dunkel. Cugel hastete an den Nebentisch, packte den erwählten Bart, schnipste geschickt ... Einen Moment entglitt der Hahn wohl Bunderwals Griff oder vielleicht war auch nur noch etwas Zündstoff in den Lampen, jedenfalls leuchteten sie einen Augenblick noch einmal hell auf und nunmehr starrte der jetzt bartlose Herr Cugel geradewegs in die Augen. Wieder erlosch das Licht und der Herr hatte nur noch die Erinnerung an ein langnasiges Gesicht, umrahmt von glatten schwarzen Haar, das unter einem ausgefallenen Hut hervorhing.
Verwirrt schrie der Herr: »Ho! Krasnark! Schurken und Halunken sind unter uns! Wo ist mein Bart?«
Ein Schankbursche tastete sich durch die Dunkelheit und drehte den Lichthahn auf. Wieder brannten die Lampen hell.
Krasnark, dem der Verband verrutscht war, stürmte herbei, um nach dem Rechten zu sehen. Der Entbärtete deutete auf Cugel, der sich auf seinen Stuhl zurückgelehnt und die Hand schlaff um den Krug gelegt hatte, als schliefe er. »Dort sitzt der Missetäter! Ich sah, wie er mir wölfisch grinsend den Bart abschnitt!«
Empört rief Cugel: »Er redet irr! Achtet nicht auf ihn. Ich saß hier, unbeweglich wie ein Fels, während sein Bart gestutzt wurde. Das Bier hat wohl seine Sinne benebelt!«
»Unverschämtheit! Ich habe Euch mit beiden Augen gesehen!«
Im Tonfall des schuldlos Verdächtigten sagte Cugel: »Wes-halb sollte ich Euch den Bart nehmen? Hat er überhaupt einen Wert? Durchsucht mich, wenn Ihr wollt! Ihr werdet nicht ein Härchen finden!«
Hörbar verwirrt sagte Krasnark: »Cugels Worte klingen vernünftig! Wirklich, warum sollte er Euch den Bart abschneiden?«
Der Herr, mit nun vor Wut tiefrotem Gesicht, schrie: »Warum sollte überhaupt jemand meinen Bart abschneiden? Trotzdem fehlt er! Seht selbst!«
Krasnark schüttelte den Kopf und drehte sich um. »Das geht über mein Vorstellungsvermögen! Bursche, bring Meister Mercantides einen Krug gutes Tatterblass zur Beruhigung seiner Nerven. Er braucht dafür nicht zu bezahlen.«
Cugel wandte sich an Bunderwal. »Es ist vollbracht.«
»Es ist vollbracht«, bestätigte Bunderwal großmütig. »Ihr seid der Sieger. Morgen Mittag gehen wir gemeinsam ins Kontor von Soldinck und Mercantides, dort werde ich Euch für den Posten des Ladungsaufsehers vorschlagen.«
»›Mercantides‹«, überlegte Cugel. »Nannte Krasnark nicht den Herrn so, dessen Bart ich abschnitt?«
»Nun, da Ihr es erwähnt, glaube ich, das war der Name«, bestätigte Bunderwal.
Wagmund, der auf der anderen Seite saß, gähnte laut. »Ich habe genug der Aufregung für einen Abend! Ich bin müde und angenehm schläfrig. Meine Füße sind warm und die Stiefel inzwischen gewiss trocken. Es wird Zeit, dass ich nach Hause gehe. Wo sind meine Stiefel ...«